Corona, die erste Entscheidung des BGH ist verkündet! Urteil vom 12.01.2022 zu dem Aktenzeichen XII ZR 8/21

Zu der Kernfrage (und Mutter aller Fragen!), ob bei pandemiebedingter Schließungsanordnung ein Anpassungsanspruch nach § 313 BGB besteht!
13 Erkenntnisse + 7 Fragen

I. Ausgangspunkt

Wie wir bereits nach der mündlichen Verhandlung am 01. Dezember 2021 erahnen und berichten konnten, kommt nach der Ansicht des BGH ein Anpassungsanspruch des Mieters nach § 313 BGB (hier bezüglich einer Miete aus April 2020 und dem ersten Lockdown mit einer Schließung während des Zeitraumes vom 19.03.2020 bis zum 19.04.2020) in Betracht (vgl. News vom 02.12.2021).


Der XII. Senat des BGH verwies heute den Fall zur erneuten Verhandlung zurück an das OLG Dresden, das nun im weiteren Verlauf des Rechtsstreits gehalten ist, tragfähige Feststellungen dazu zu treffen, welche konkreten wirtschaftlichen Auswirkungen die Geschäftsschließung in dem streitgegenständlichen Zeitraum für die Beklagte und Mieterin hatte und ob diese Nachteile ein Ausmaß erreicht haben, dass eine Anpassung des Mietvertrages erforderlich macht.


Nun wird kein geneigter Jurist oder Gewerbetreibender umhin kommen, diese 31 seitige Entscheidung des BGH einmal selbst zu lesen; zu epochal ist deren Bedeutung in dieser größten Kriese seit dem II. Weltkrieg. Wir möchten uns daher in diesem Rahmen weniger auf eine Wiedergabe der Entscheidungsgründe, als darauf beschränken, unsere tragenden Erkenntnisse knapp und thesenartig wie folgt zusammenfassen:


II. Was wissen wir jetzt?

Folgende 13 Rückschlüsse lassen sich (zum Teil über die Leitsätze hinaus) unmittelbar oder mittelbar aus diesem Urteil ziehen:

  1. Die pandemiebedingte Schließungsanordnung bezüglich eines Einzelhandelsgeschäfts führt nicht zu einem Mangel der Mietsache im Sinne von § 536 Abs. 1 BGB. Damit ist die Anwendbarkeit der mietrechtlichen Gewährleistungsvorschriften ausgeschlossen.
  2. Zwar könnten staatliche Allgemeinverfügungen oder gesetzgeberische Maßnahmen während eines laufenden Mietverhältnisses Beeinträchtigungen des vertragsgemäßen Gebrauchs und einen Mangel der Mietsache im Sinne von § 536 Abs. 1 BGB begründen. Voraussetzung hierfür wäre jedoch, dass die durch die gesetzgeberische Maßnahme bewirkte Gebrauchsbeschränkung unmittelbar mit der konkreten Beschaffenheit, dem Zustand oder der Lage des Mietobjektes in Zusammenhang steht (woran es hie fehlt).
  3. Durch die Pandemie wird dem Vermieter die vertraglich geschuldete Leistung zur Überlassung und Erhaltung der Mietsache zum vertragsgemäßen Gebrauch weder ganz, noch teilweise unmöglich. Die allgemeinen Vorschriften über die Unmöglichkeit finden keine Anwendung.
  4. Trotz der Vereinbarung eines konkreten Mietzwecks (hier: „Nutzung als Verkaufs-, und Lagerräume eines Einzelhandelsgeschäftes für Textilien aller Art, sowie Waren des täglichen Ge-, und Verbrauchs“) ist nicht anzunehmen, dass der Vermieter eine unbedingte Einstandspflicht auch für den Fall einer hoheitlich angeordneten Nutzungsuntersagung im Fall einer Pandemie übernehmen wollte.
  5. Das Verwendungsrisiko trägt der Mieter. Die Vertragsparteien können durch vertragliche Abreden die Risikoverteilung ändern. Derartige mietvertragliche Vereinbarungen sind allerdings grundsätzlich eng auszulegen. Wenn die Parteien (wie im konkreten Fall) mietvertraglich regeln, dass bei einer Unterbrechung von Gas, Strom und Wasser durch einen nicht von dem Vermieter zu vertretenden Umstand oder bei Überschwemmungen oder sonstigen Katastrophen kein mieterseitiges Recht zur Minderung oder zum Schadensersatz bestehen solle, ist damit nicht zugleich auch das Risiko einer Pandemie auf den Mieter übertragen.
  6. Ohne entgegenstehende Anhaltspunkte kann davon ausgegangen werden, dass redliche Mietvertragsparteien den Vertrag mit einem anderen Inhalt abgeschlossen hätten, wenn sie die Möglichkeit einer Pandemie und die damit verbundene Gefahr einer hoheitlich angeordneten Betriebsschließung vorausgesehen und bedacht hätten.
  7. Durch die COVID-19 Pandemie hat sich ein allgemeines Lebensrisiko verwirklicht, das eine Systemkrise ausgelöst hat. Die vielfältigen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie und die damit verbundenen Auswirkungen betreffen die große Geschäftsgrundlage und damit die Erwartung der vertragschließenden Parteien, dass sich die grundlegenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen eines Vertrages nicht ändern und die soziale Existenz nicht erschüttert wird. Daraus folgt noch nicht, dass ein Mieter stets eine Anpassung der Miete für den Zeitraum der Schließung verlangen kann.
  8. Im Rahmen der Prüfung eines konkreten Anpassungsanspruch verbieten sich pauschale Betrachtungsweisen (und eine formelhafte Kürzung der Zahlungspflicht um 50 %.). Maßgeblich sind vielmehr sämtliche Umstände des Einzelfalls.
  9. Ein Anpassungsanspruch nach § 313 BGB soll nicht zu einer Besserstellung des Mieters im Sinne einer Überkompensation führen. Daher sind auch finanzielle Vorteile zu berücksichtigen, die der Mieter dauerhaft aus staatlichen Leistungen oder von (Betriebsausfall-,) Versicherungen zum Ausgleich der pandemiebedingten Nachteile erlangt hat. Demgegenüber sind rückzahlbare staatliche Darlehen im Rahmen der Bewertung nicht zu berücksichtigen.
  10. Für einen Anpassungsanspruch erforderlich ist es dabei, ob es den jeweiligen Vertragspartnern unter Berücksichtigung der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung zumutbar ist, an dem unveränderten Vertrag festzuhalten. Dabei ist es maßgeblich, ob ein Festhalten an der vereinbarten Regelung für die betroffene Partei zu einem nicht mehr tragbaren Ergebnis führt; einer wirtschaftlichen Existenzgefährdung bedarf es demgegenüber nicht.
  11. Im Rahmen der erforderlichen Darlegung und tatrichterliche Bewertung ist der konkrete Umsatzrückgang bezüglich des Mietobjektes für die Zeit der Schließung zu betrachten, wobei es nicht auf einen möglichen Konzernumsatz ankommt. Dabei kann es auch zu berücksichtigen sein, welche Maßnahmen der Mieter zur Abwendung seiner wirtschaftlichen Folgen ergriffen hat oder hätte ergreifen können, um die Verluste zu beschränken.
  12. Neben den Umständen des Mieters können im Rahmen der Abwägung auch die Interessen des Vermieters Berücksichtigung zu finden haben.
  13. Der Mieter muss darlegen und beweisen, welche Nachteile ihm aus der Betriebsschließung entstanden sind, die ihm eine vollständige Mietzahlung für diesen Zeitraum unzumutbar machen und welche zumutbaren Anstrengungen er unternommen hat, um drohende Verluste auszugleichen. Behauptet der Mieter, keine staatlichen Unterstützungsleistungen erhalten zu haben, muss er darlegen und beweisen, dass er sich um solche Hilfeleistungen vergeblich bemüht hat. Gelingt ihm dies nicht, muss er sich so behandeln lassen, als hätte er die staatliche Unterstützungsleistungen erhalten. Wendet hingegen der Vermieter ein, dass die vom Mieter behaupteten Verluste nicht auf der Pandemie beruhen, trifft ihn hierfür die Darlegungs- und Beweislast.

III.  Was ist weiter offen und wird erst die Zukunft weiterer Entscheidungen zeigen?

Dem gegenüber sind u.a. folgende sieben Fragen weiter offen, weil sie weder im Zusammenhang mit dem beschränkten Streitgegenstand des hiesigen Urteils zu klären waren, noch hat der BGH hierzu im Wege eines obiter dictums Ausführungen vorweggenommen:


  1. Kommt ein solcher Anpassungsanspruch nach § 313 BGB auch in den Fällen in Betracht, in denen keine vollständige Schließungsanordnung vorlag, sondern nur eine Beschränkung des Gebrauches (z.B. durch Flächenreduzierungen oder Kundenhöchstzahlen) erfolgte?
  2. Unter welchen Umständen kann in dem Zeitraum zwischen den Lockdowns ein Anpassungsanspruch des Mieters in Betracht kommen, der während jenes Zeitraumes gar keiner staatlichen Beschränkungen mehr unterlag (wenn z.B. ein Hotel im Mai 2020 zur eigenen Schadensminderung gar nicht erst geöffnet hat, weil es zu Recht eingeschätzt hat, dass die Öffnungs-, und Unterhaltungskosten in Ansehung der touristischen Zurückhaltung und der faktischen Einstellung von Geschäftsreisen am europäischen Markt keinen Gewinn hätten zulassen können), sondern dem schleppenden Restart und/oder den nur durch die Pandemie veränderten Marktbedingungen?
  3. Kommt ein Anpassungsanspruch z.B. einer Apotheke in einem Shopping-Center in Betracht, die selbst auch während der Lockdowns öffnen konnte, jedoch mittelbar unter den Schließungsanordnungen zu Lasten der Nachbarn und deren ausbleibenden Kunden gelitten hat (dagegen: LG Potsdam 4 O 56/21).
  4. Besteht der Anpassungsanspruch des Mieters auch nach Beendigung eines Mietvertrages während des Zeitraumes einer Vorenthaltung des Mietgegenstandes (vgl. Post vom 09.12.2021 bezüglich: KG 8 U 85/21)?
  5. Wie genau sind ersparte Aufwendungen (wie Kurzarbeitergeld, Ersparnis von Einkäufen etc.) den Umsatzrückgängen gegenüber zu stellen?
  6. Kann ein die Mieten während des Lockdowns vorbehaltlos zahlender Mieter nach deren Ausgleich eine rückwirkende Anpassung nach § 313 BGB verlangen und seine Zahlungen zurückfordern (oder gegen spätere Mietzahlungspflichten aufrechnen)?
  7. Verändert sich die Bewertung der vorstehenden Frage, wenn die Zahlungen auf die Mieten erst später in einem laufenden Passiv-Rechtstreit erfolgt sind, um die Forderungen des klagenden Vermieters prozessual zur Erledigung zu bringen?

Rechtsanwalt Frank Weißenborn
Fachanwalt für Miet- und Wohnungseigentumsrecht

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